In Hamburg, nicht fern vom großen Fluss, da wo dieser noch nicht so schick und satt und zugelaufen ist, steht und wirkt ein Mann. Der kann nicht anders und tut was er kann.

Er kann vor allem hören und zuhören, anregen und arrangieren, abmischen und produzieren. Doch immer wieder muss Johann Scheerer, so heißt unser Mann am Fluss, auch mal die Seiten wechseln und selbst Musik schreiben und machen und sie auf seine Studer A820 bannen, die etwa so alt ist wie er selbst. Dann holt er auch Sebastian Nagel (Gitarren, Bass, Synthesizer, Effekte) und Philip Kranz (Schlagzeug) dazu, die beharrlich wichtige Akzente im oft minimalistischen Spiel setzen, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Dann ist es wieder Zeit für Karamel!

„~ “ – gesprochen: „Tilde“ – ist bereits das vierte Album dieser etwas anderen Band.

„Musik wie ein langsamer Sommertag, die Texte eine Grube aus Trauer und Wut: deutscher Eigenbrötler-Pop in super!“, schwärmte der MusikExpress schon 2007 nach dem zweiten Karamel-Album „Schafft Eisland“ und wähnte in Johann Scheerer mal eben den „Pulsgeber des deutschen Indie-Rock“ am Werk.

Auch Wahl-Hamburger Gisbert zu Knyphausen zeigte sich beeindruck: Karamel kreierten „Klanglandschaften, die ich noch von keiner anderen deutschsprachigen Band gehört habe.“

Ja, vom Klang muss auch jetzt wieder zwingend die Rede sein. Und von den Räumen, in denen sich dieser Klang entfalten kann, in denen Karamel-Musik (ent)stehen, schweben und vergehen kann. Zwischen sanften Noise-Schleifen und einem Songwriting, welches manchmal so fragil daherkommt, dass man automatisch „pssst“ machen möchte (wenn draußen der Müllwagen vorbeirattert). Zwischen natürlich generierten Klangquellen und behutsam platzierten Effekten, die nie erhascht wirken. Hier schnarrt eine Snare-Trommel wie sonst fast nirgends mehr, derweil sich das Intro zu „Sie töten alle Könige“ auch mal fast zweieinhalb Minuten Zeit nimmt, um diesen Spannungsbogen zu schlagen, und dann den Blick zu richten auf einen, der seinen Blick aus der oberen Etage so schonungslos wie müde-selbstgefällig seziert. Ein Stück vom lauen Vorabend einer Revolution, die dann auch nicht kommt.

Es ist auch immer wieder dieser besondere Blickwinkel, der Karamel-Stücke über das Einerlei der deutschen Mehrwert-Popmusik erhebt. Mit einer Stimme, die greifbar ist ohne dem Text im Weg zu stehen, die Emotion weckt ohne sie zu beschreien, erzählt Johann Scheerer von der Nacht, in der man die Taschenlampe einpackt und ihren Schatten hinterherjagt und von der Macht, die taub und faul macht. Vor allem aber erzählt er, immer wieder, von der Zeit. Und was könnte zeitgemäßer sein in einer Zeit, die im Options- und Optimierungswahn stets der verlorenen Zeit hinterherjagt und dabei doch nur den Moment verliert? Und damit die einzige Zeit, die wirklich bleibt.

“Ihr seid die Kinder, und ich bin die Zeit“, singt Scheerer zum schleppend klimpernden Galeeren-Groove von „Ich vergebe jedem Tag neu“, um Vergebung bittend für „meine Ungeduld“, und aus einer ähnlichen Perspektive wie in seinem Stück „Sorge“ auf dem letzten Album „Maschinen“. Songs wie „Vielleicht vergeht ja die Zeit mit dir“ und „Heilige zur rechten Zeit“ (ein Liebeslied nach einem Gertrude Stein-Zitat) schicken kleine Funken der Hoffnung in fortwährende Skepsis, in diesem klaren, unerhört zarten Ton, der sich alle Sentimentalität schön vom Leibe hält. Und ist nicht Schweigen oder Reden letztlich auch oft eine Frage der Zeit? „Unter meiner Zunge“ könnte ganz viel Gold liegen. Oder doch nur ne Menge Blech aus Feigheit.

Und dann ist da natürlich noch dieses Stück, das nicht zufällig genau in der Mitte dieses Albums steht, zurecht ein bisschen abgesetzt vom Rest davor und danach. „Die große Explosion“ heißt es und führt Karamel zusammen mit Jean-Hervé Péron (Cavacino, Gitarre, Gesang, Effekte) und Zappi Diermaier (Schlagzeug, Blech, Hall, Gesang) von Faust. Diesen immer noch sehr lebendigen Krautrock-Überlebenden, die Johann Scheerer zuletzt auch schon auf der anderen Seite der Scheibe (als Produzent) erleben durfte, die ihm überdies 2009 bereits die seltene Ehre erwiesen haben, den eben bereits erwähnten Karamel-Song „Sorge“ als „Lady Sorrow“ zu interpretieren.

„Die große Explosion“ beschreibe, so Johann Scheerer, „den Moment nach einer persönlichen Lebenskatastrophe.“ Und weil die – in welcher Form auch immer – in fast jedem Leben irgendwann Zeit und Raum und auch einfach die Luft zum Atmen nimmt, ist es doch ganz gut und tröstlich zu wissen, dass danach zwar so manches „verstaubt und zerkratzt“, doch der wahre Schatz intakt ist. „Zweifelsfrei fall ich im Takt“, singen Scheerer und Faust, bis der Vorhang für die große Illusion „der erwähnten Explosion“, welche „die Hasen aus dem Hut in den Ärmel eines Mannes aus Beton katapultierte“, gefallen ist – „und der Mann nun sicherlich verstaubt und zerkratzt, doch die Zuschauer völlig im Takt.“

In Hamburg, nicht fern vom großen Fluss, hat ein Mann auch Humor. Der bekanntlich helfen soll beim Leben.